„Fragen ist Silber, Reden ist Gold.“

Was hätten Sie sich als betroffenes Kind von den Erwachsenen im familiären und sozialen Umfeld gewünscht oder gebraucht?

Erschreckender Weise waren es bereits Grundbedürfnisse, die ungestillt blieben, was den späteren sexuellen Missbrauch begünstigte. Meine Eltern waren im Stande, meine physiologischen Grundbedürfnisse nach Nahrung, Obdach, Schlaf etc. zu stillen. Anders bei den Sicherheitsbedürfnissen: statt Schutz und Stabilität im Elternhaus, schufen übermäßige Strenge unbedingter Gehorsam, Leistungsdruck, Angst vor Ärger und körperlicher Bestrafung eine freudlose Grundstimmung in meiner Herkunftsfamilie. Die kühle, nachtragende Mutter wirkte von ihren familiären Aufgaben, zusätzlich zum Beruf, überfordert, während der Vater dienstlich viel im Krankenhaus war und das häusliche Regime maßgeblich prägte.

Gebraucht hätten wir Kinder ausgeruhte, entspannte Eltern, deren Wärme, Mitgefühl und spürbare Liebe. Mehr Zeit für Gespräch und Nachfrage, wie es uns Kindern geht, was uns beschäftigt, hätten die gemeinsamen Mahlzeiten geboten. Stattdessen trainierten wir Tischmanieren, hörten still elterlichen Gesprächen über tagsüber operierte Varizen zu und erlebten, dass unser Vater es als Angriff empfand, wenn wir in einer Sache anderer Meinung waren als er.

Was die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls unterstützt hätte, wären die Achtung unserer Meinungen und Grenzen, angemessene körperliche Nähe, Geduld, Ermutigung und Wertschätzung gewesen. Tabuisierung und fast tägliche Herabwürdigung erlebte ich im Hinblick auf mein Bettnässen. Ich durfte nicht einmal wissen, dass mein Vater als Junge selbst Bettnässer gewesen war. Wie hätte es mir in meiner Scham und Verzweiflung geholfen zu erfahren, dass ich nicht als Einzige diesen Makel trug und hoffen durfte, irgendwann immer in einem trockenen Bett zu erwachen.

Einmal hatte ich das Glück, dass die älteste Schwester meines Vaters sich für mich einsetzte, als ich mir die Knie aufgeschlagen und die Strumpfhose zerrissen hatte. Da ging sie schon mal vor, beichtete das Malheur, so dass der anschließende Ärger für mich gemäßigter ausfiel. Hilfreiche Erwachsene wünsche ich allen Kindern: Erwachsene mit dem Mut, sich in das geschlossene System Familie einzumischen, wenn es den Kindern dort nicht gut geht. Dazu wünsche ich ihnen Eltern, die ihr Verhalten reflektieren, sich bei Überforderung Hilfe holen und mit ihren Kindern im Gespräch bleiben.

Was ich mir von Erwachsenen in Familie und sozialem Umfeld gewünscht hätte: eine offene Gesprächsatmosphäre sowie Aufklärung darüber, dass es Väter, Mütter, Verwandte, Bekannte, Lehrerinnen und Lehrer, Priester, Trainerinnen und Trainer, Fremde gibt, die Kindern Dinge antun, die verboten sind, was sexualisierte Gewalt ist, dass jede/r sich dagegen wehren und Hilfe holen darf. Hätte ich außerhalb des Elternhauses jemanden gewusst, dem ich alles hätte anvertrauen können! Wäre mir klar gewesen, dass es nichts auf der Welt gibt, das für immer zu verschweigen ist. Hätte ich den Unterschied zwischen guten und blöden Geheimnissen gekannt! Hätte ich nur gewusst, dass stets der missbrauchende Erwachsene für sein Handeln verantwortlich ist, niemals aber das missbrauchte, geschädigte Kind Schuld am sexuellen Missbrauch trägt. Vielleicht wäre ich wehrhaft gewesen und hätte viele Jahre früher über die Missbräuche gesprochen?

Der kleinen Christiane von damals hätte ich einen hilfreichen Erwachsenen gewünscht, der ihr diese Frage gestellt hätte: „Passiert dir zu Hause etwas, dass sich komisch oder falsch anfühlt und das du niemandem erzählen darfst?“

Was hat sich für Kinder, die heute von sexualisierter Gewalt betroffen sind, in den letzten Jahren verändert?

Hat sich der Rahmen für ein geschütztes Aufwachsen von Kindern in Deutschland verbessert? Das Thema begegnet ihnen in Kindergarten und Schule, in Kinderbüchern, Präventionstheaterstücken und Medien. Dadurch werden sie in ihrer Wahrnehmung und Sprachfähigkeit bestärkt. Sie lernen, dass Kinder Rechte haben, welche Erwachsene achten müssen. Zugleich wird Letzteren bewusster, dass sexualisierte Gewalt ein immenses gesamtgesellschaftliches Problem darstellt, das in jedem Kontext und jeder sozialen Schicht existiert.

Die Frage von Lehrerinnen „Christiane, wieso guckst du immer so traurig?“ begleitete mich durch die Grundschulzeit. Weder konnte ich sie beantworten, noch bemerkte ich, ob meine Lehrerinnen versucht haben, den Grund zu erfahren.

Heute wird es selbstverständlicher neben der Leistungsfähigkeit in der Schule auch die körperliche und seelische Gesundheit der Kinder wahrzunehmen. Seit einigen Jahren ist das Missbrauchsthema fester Bestandteil von Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte. Hilfreiche Informationen zum Thema sexualisierte Gewalt, wann Erwachsene hellhörig werden sollten und wo sich Hilfe holen lässt, sind jedem zugänglich.

Im öffentlichen Raum lesen wir von kostenfreien, anonymen Nummern von Hilfetelefonen und Online-Beratungen. Spots auf Bildschirmen des ÖPNV, Aufkleber auf Schultoiletten, sachliche, kindgemäße TV-Beiträge klären über Möglichkeiten auf, Missbrauch zuerkennen. Diesen zu beenden, Kinder zu schützen und heilsam zu begleiten, bleibt Pflicht von uns Erwachsenen.

Sind Kinder in unserem Land heutzutage seltener sexualisierter Gewalt ausgesetzt? Im Gegenteil. Cybergrooming sowie Herstellung und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen im Internet nehmen zu, Missbrauchende werden brutaler und vergreifen sich an immer jüngeren Babys und Kindern, sexualisierte Gewalt unter Minderjährigen nimmt zu.

Was fordern Sie von den EntscheidungsträgerInnen in Regierungsverantwortung, kommunaler Ebenen und Institutionen, damit Kinder vor sexualisierter Gewalt geschützt sind und schneller Hilfe bekommen?

Sexueller Kindesmissbrauch verursacht neben den individuellen, oft lebenslangen Schädigungsfolgen auch einen riesigen finanziellen Schaden, welcher von der Allgemeinheit getragen wird. Therapiekosten, Erwerbsminderungsrenten, finanzielle Hilfen aufgrund eingeschränkter Erwerbsfähigkeit als Missbrauchsfolge usw. lasten auf den Schultern der Gesamtbevölkerung.

Das Bewusstsein, dass die Allgemeinheit für Schäden aufkommt, die durch die Verbrechen sexueller Gewalttäter verursacht werden, sollte geschärft werden.

Nehmen Sie Betroffene als Experten ernst, beschäftigen Sie sie in Expertenteams mit nicht Betroffenen und installieren Sie diese Teams auf Bundes- und Länderebene und in Institutionen.

Nutzen Sie das Wissen Betroffener um tatbegünstigende Voraussetzungen sowie die defizitäre Versorgung bereits missbrauchter Menschen.

Statten Sie Fachberatungs- und Anlaufstellen mit ausreichend Personal für zeitnahe Interventionen und Beratungen aus. Fördern Sie Forschung, Aus- und Weiterbildung in Kinderschutzthemen, stellen Sie Schulsozialarbeit, therapeutische Versorgung und Ermittlungsbehörden flächendeckend auf eine solide Basis.

Stellen Sie in jedem Fall die Sorge um die Sicherheit der Kinder, Jugendlichen, schutzbefohlenen Erwachsenen vor den Schutz der Institution. Greifen Sie als Staat in die rechtliche Autonomie der Kirchen ein.

Schaffen Sie flächendeckend interdisziplinäre Beratungsstellen für Betroffene von sexualisierter Gewalt sowie für deren Familien und das soziale Umfeld. Unterstützen Sie Tat-Familien, die als „irritiertes System“ nach der Katastrophe sexueller Missbrauch sich selbst überlassen sind, bei der Bewältigung der Tatfolgen.

Sicher sollten Initiativen wie „Kein-Täter-Werden“ gefördert und ausgebaut werden. Zu dieser Thematik bin ich jedoch nicht aussagefähig.

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Herzliche Einladung zur nächsten Frauenzeit am 28.9.22

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Offener Brief zur institutionellen Aufarbeitung